Innerer Halt und Stimmigkeit im Leben
Wir leben in einer zunehmend dynamischen und hochkomplexen Welt. Das Lebenstempo hat sich merklich beschleunigt, der Alltag erscheint unsicherer und krisenhafter, beruflich wie privat. Zunehmender psychischer Stress ist eine spürbare Auswirkung davon. Ängste, Zukunftssorgen und Verunsicherung sind zu allgemeinen Begleitern geworden. Worauf kann man sich verlassen, was gibt einem Menschen in all den Veränderungen Stabilität, Sicherheit und Vertrauen? Wo und was ist der Anker für inneren Halt?
Der innere Kompass Der spanische Lyriker Machado schrieb: „Wanderer, deine Spuren sind der Weg, und sonst nichts; Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen.“ Die scheinbare Beliebigkeit und mangelnde Verlässlichkeit des Lebens verlangen nach einem inneren Anker, der als verlässlicher Orientierungs- punkt im Leben dient. Einem inneren Kompass, der hilft, gelassener und vertrauensvoller durch das Leben zu gehen. Dieser Kompass wohnt in jedem Menschen und er teilt sich als innere Stimme, als innere Stärke mit. Er gibt die Kraft, aus alten Mustern herauszutreten, neue Wege zu wagen, Mut zu finden um zu sich zu stehen und das zu sein, was wirklichen Frieden bringt: ein authentischer und in sich stimmiger Mensch. Es ist auch ein Ort der Zuflucht, wenn die Stürme des Lebens einen hin- und hertreiben. Und es ist auch der Ort, an dem der Mensch um seine Würde und seine Werte weiß. Dieser Kompass, dieser Ort ist die menschliche Seele. Der Mensch ist ein beseeltes Wesen und das meint zweierlei: Zum einen eine Seele zu haben und mit ihr in Berührung zu sein. Zum anderen ein beseeltes Leben führen zu können mit Freude, Hingabebereitschaft und aus tiefstem Seelengrund lebendig zu sein.
Ein Chirurg soll mal geäussert haben, es gäbe keine Seele, er habe schon viele Menschen obduziert, aber eine Seele habe er nie gefunden. Die Seele ist also kein Organ des Menschen im herkömmlichen Sinne. In gewisser Weise lässt sich die menschliche Seele als Zuhause des unbewußten und bewußten Menschseins beschreiben. Sie ist mehr als Körper, Emotionen und Verstand. Man kann die Seele als Ausdruck des „Spürbewusstseins“ begreifen: als Erahnen, Erfühlen, intuitiv Erfassen. Durch die Fähigkeit, in sich hineinzuspüren, kommt man seinem Innersten auf die Spur. Das kognitive Bewusstsein alleine verfügt nicht über diese Möglichkeit. Das kleine medizinische Fachgebiet der Psychosomatik spricht hier gerne über die gegenseitige Einflussnahme von biologischen Prozessen (Körper), denkendem Bewusstsein (Geist) und fühlendem/spürendem Bewusstsein (Seele). Dies zeigt sich im folgenden Dialog zwischen Seele und Körper: „Sag´s du ihm/ihr. Auf mich hört er/sie ja nicht“, sprach die Seele zum Körper. „Ich werde einfach krank werden, damit er/sie sich Zeit nimmt, auf dich zu hören“, antwortete der Körper.
Wie findet man nun Wege, die Bewegungen der eigenen Seele kennen zu lernen, ihrer Stimme zu lauschen und Vertrauen zu schenken? Ohne vorher ernsthaft physisch oder psychisch zu erkranken.
In unserem Inneren ist eine Stimme, die sagt, was gut für uns ist. Wir können sie nicht mit den Ohren hören, wohl aber mit dem Herzen. (Jochen Mariss)
Das Wort „Person“ hat seine mythologischen Ursprung im altgriech. „persona“. So wurde die Maske genannt, die ein griechischer Schauspieler vor dem Gesicht trug, in der seine Rolle besser zum Ausdruck kam und die Zuschauer ihn damit identifizierten. Heutzutage spricht man von sich als Person oder Persönlichkeit und meint damit einen Menschen definiert nach geschlechtlicher, sozialer oder beruflicher, politischer usw. Rolle. Oder spricht von Person im Kontext von Charaktereigenschaften und Verhaltenweisen. Man ist als Person sozusagen die Schnittstelle zur Außenwelt, der beruflichen und privaten Alltagswelt. In gewisser Weise kann man von einem äusseren Mantel sprechen, in dem ein Mensch eingehüllt und geschützt wird.
Nun neigt man dazu, sich mit diesen verschiedenen Rollen und Funktionen allmählich so zu identifizieren, dass man glaubt, dieser Mantel zu sein und sich selbst als Mensch in seiner Tiefe nicht mehr erkennt oder wiederfindet. So kann es langsam zu einer inneren Leere kommen, die irgendwann schmerzhaft zu spüren ist. Ängste und Depressionen können Ausdruck dieser Leere sein. Hier mag im Menschen eine Fähigkeit zum Tragen kommen, die man als Intuition benennen kann, das Aufmerksam werden auf eine „inneren Stimme“, die den Menschen aus seiner Problematik und Misere heraushelfen will. Sie kommt nicht aus dem Kopf. Man spricht von der Stimme des Herzens oder Bauchstimme, weil Herz und Bauch mit Gefühlen bzw. mit Intuition assoziiert wird.
Möglicherweise auch deswegen, weil sich der Herz- und Bauchraum wie ein Resonanzkörper eignet, die im Menschen erzeugten Schwingungen wahrzunehmen. Intuition ist Ausdruck einer solchen Resonanzwirkung. Der Begriff „Intuition“ kommt vom lat. „intueri“, was soviel bedeutet wie „genau hinsehen, anschauen“. Intuitives Erfassen meint also, durch inneres Schauen, und nicht durch Denken, Kenntnis von etwas zu erlangen. Der seelische Innenraum teilt sich dem Menschen sozusagen über ein inneres Erfühlen, über ein inneres Bild mit. Die Werkzeuge für ein solches Wahrnehmen sind Achtsamkeit, Geduld und die Bereitschaft zum Innehalten und in die Stille zu gehen. Und sich dafür immer wieder zu Entscheiden. Mit anderen Worten: Geben Sie sich „Seelenzeiten“! Zeiten, in denen man deutlicher die eigenen Sehnsüchte, Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen wahrnimmt. Zeiten, in denen Platz geschaffen wird für das wirklich Wesentliche im persönlichen Leben. Zeiten, um den eigenen Wahrheiten im Inneren begegnen zu können. Zeiten, in denen man Kraft tankt und sich innerlich verbunden fühlt.
In der heutigen Multitasking-Welt hilft die Praxis der Achtsamkeit, gezielt die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Nicht gemeint ist die Aufmerksamkeit nach aussen, sondern jene nach innen. So wird es möglich, in sich selbst hineinzulauschen, – zuschauen,- zufühlen. Dadurch kann das sonst nicht Wahrnehmbare im Inneren wahrnehmbar werden. Man bekommt einen Zugang zum eigenen Innersten, zur Seele. Es spricht für sich, dabei auf alle Media und Mobilphones in diesen „Seelenzeiten“ zu verzichten, sich durch nichts stören zu lassen. Leise und wohltuende Hintergrundsmusik mag durchaus unterstützend sein.
Du wirst mehr in den Wäldern als in den Büchern finden. Bäume und Steine werden dich über Dinge belehren, die dir kein Mensch erzählen kann. (Bernard von Clairvaux)
Ein weiteres Navigationssystem zur Seele ist die Natur. Landschaften die einen wohltuenden, stressreduzierenden Effekt auf den Menschen aufweisen sind Gewässer wie Seen, Teiche, Flüsse, Bäche sowie Meeresstrände und das offene Meer. Auch Landstriche mit Blumen, blühenden Bäumen, Hecken und Sträuchern, ebenso Wälder oder hügelartige Landschaften sind eine Wohltat für die Seele. Aufenthalte in den Bergen, die besondere Aus- und Weitblicke ermöglichen, eröffnen sich zu wahren Kraftorten für die menschliche Seele. Der oben zitierte Spruch des Bernard von Clairvaux, Gründer des Zisterzienserordens im 12. Jhdt., spricht genau von dieser klaren und verbindenden Resonanz mit der Seele, wenn man sich auf die Natur einlässt. Wieder ist nicht das Kognitive sondern das Fühlende/Spürende gemeint. Wer gerne in städtischer Umgebung lebt, kann sich auch nachgewiesenermaßen in naturähnlichen Parks seelisch erholen. Es kann auch ein Lieblingsbaum sein oder eine Zimmerpflanze. Sich davon berühren lassen und darin verweilen können, ist der Schlüssel zu einem seelischen Zugang. Als Resultat mögen kreative Einsichten sich zeigen, tiefe Lebensweis- heiten sich eröffnen oder neue Orientierungen sich finden. Es ist, als ob sich die Seele mit der größeren Naturseele verbindet und so mit neuer Energie versorgt wird. Die äussere Natur wirkt wie ein Spiegel für die innere Natur des Menschen.
Dimensionen der Seele
Vertrauen! Vertrauen heisst, sich vorbehaltlos auf jemanden anderen oder etwas anderes zu verlassen. Das Leben lässt sich nur dadurch bewältigen, dass man immer wieder Vertrauen wagt. Das man loslässt, sich fallen lässt, sich anvertraut. Steve Jobs, der Gründer von Apple, rief bei einer Rede vor Absolventen der Stanford Universität diesen zu: „Sie müssen auf etwas vertrauen – auf Ihr Bauchgefühl, Ihr Schicksal, Ihr Leben, Ihr Karma, oder was auch immer.“ Wenn man auf seine/ihre Seele hören lernt und den Weg des Herzens geht, braucht man Vertrauen. Vertrauen ermöglicht, mutig zu sein. Das Wort „courage“ (Mut) leitet sich von „Herz“ und „groß“ ab, meint also „großes Herz“. Auf die Seele hören und darauf zu vertrauen verlangt Mut und Ehrlichkeit.
Sehnsucht! Die Seele ist potentiell. Sie hat ein Wissen darum, wie das im Menschen angelegte Potential zur Entfaltung gebracht werden kann. In jedem Menschen schlummert eine Lebenskraft, die sich durch ihn und durch sein konkretes Leben entfalten und ausdrücken möchte. Bleibt man hinter seinem/ihren Potential zurück, wird die Seele Wege suchen, daran erinnert zu werden. Die Seele will einem helfen, sich aus der Einengung des bisherigen Gewordenseins zu befreien – hin zum Werdenkönnen, so dass ungelebtes Potential sich entfalten kann. Dies nennt man Sehnsucht. Es ist eine Kraft, die helfen will, der Mensch zu sein, als der man vom Leben gemeint sind. Die Seele eröffnet einen Raum, in dem man wirklich sich selbst sein kann und nicht nur als Produkt seiner/ihrer Vergangenheit vorkommt.
„Nur jemand der weiß, was Schönheit ist, blickt einen Baum oder die Sterne oder das funkelnde Wasser eines Flusses mit völliger Hingabe an- und wenn wir sehen, befinden wir uns im Zustand der Liebe. (Jiddhu Krishnamurti)
Schönheit! Manchmal macht man die Erfahrung, wie man selbst innerlich aufblüht, wenn ein wohlwollender oder geliebter Mensch auf einen blickt: Man fühlt sich gesehen, beginnt zu strahlen, die Augen leuchten, Glanz breitet sich über das Gesicht aus. Man fühlt sich geliebt. Man ist Schönheit. So ist es auch mit der Seele. Die Seele liebt Schönheit. Je mehr sie gesehen und erkannt wird, beginnt sie zu blühen und wird schön. Die Augen werden auch als Fenster zur Seele bezeichnet. Blickt man jemand mit Offenheit und Wohlwollen in die Augen, so erfährt man dort etwas über dessen Innerstes: Wie es diesem Menschen gerade ergeht, ob seine Seele erfreut oder belastet sein mag. Doch wenn er in seinem inneren Befinden wahrgenommen und erkannt wird, mag ihn dies trösten oder erfreuen und Schönheit in seiner Seele freisetzen. Schönheit zu sehen in einer zunehmend hektischeren Welt benötigt immer wieder Momente des Innehaltens, der Verlangsamung, der Stille. Damit man am Schönen des Lebens nicht vorbeirauscht. Anstatt ein immer „höher, schneller, weiter“ wäre ein „tiefer, langsamer, näher“ angesagt.
Verbundenheit! Der moderne Mensch in seiner technisierten Welt mag die Notwendigkeit von Verbindungen und Verbundenheit nicht mehr auf eine unmittelbar existenzielle Weise erfahren. Man fühlt sich autonomer, lebt weniger in Kontakt zur einer Sippe, zur Natur, zu religiösen Gebräuchen oder zu den Ahnen. Und man lebt oftmals sogar getrennt vom eigenen Selbst, von der Seele, ohne dies zu merken. Wohlstand und Technik vermitteln gerne die Illusion, auf nichts und niemanden angewiesen zu sein oder zu brauchen. Die konkrete Erfahrung von Verbundenheit ist überlebensnotwendig. Sie hilft dem Menschen achtsamer mit sich und seiner Mitwelt umzugehen. Sie lehrt ihn, auf tieferer Weise Respekt, Achtung, Wertschätzung und Mitgefühl für einander entgegenzubringen. Wie auch zu sich selbst. Dies gilt für alle Menschen, aber auch alle anderen Lebewesen und der Erde. Eine kleine Geschichte gibt diese Verbundenheit auf liebevoller Weise wieder: Der Pandabär fragt seinen Freund, kleinenDrachen: „Was ist wichtiger, der Weg oder das Ziel?“ „Die Weggefährten“, antwortete darauf der kleine Drachen.
„Die Liebe ist der Blick der Seele.“ (Simone Weil)
Liebe! Ein allgemein verbreiteter Irrtum besteht in der Vorstellung, Liebe sei ein Gefühl. Viele missverstehen Liebe als eine Emotion, der man sich hingibt und dabei eine rosarote Brille trägt. Aber Liebe ist kein Gefühl, Liebe ist eine Haltung, eine Einstellung. Sie ist die Einstellung eines „Ja, ich bin mit Dir verbunden“, ein „Ja, ich empfinde eine tiefe Zugehörigkeit zu Dir“. Das können Eltern zu ihren Kindern sein, Freunde, Partner oder Paare. Man kann diese Haltung der Verbundenheit an dem Band der Liebe erkennen. Man kann durch viele Gefühle gehen, doch die innere Gewissheit, sich seelisch tief verbunden zu fühlen, ficht all dies nicht an. Dies gilt auch für die Beziehung zur eigenen Seele. Das Gegenteil von Liebe ist eine innere Haltung von Gleichgültigkeit und Ignoranz.
Sie führt zur Vereinzelung des Menschen und zur Entsolidarisierung in einer seelenlosen Welt. Liebe hingegen ist das Band, das dem Menschen Geborgenheit, Aufgehobensein und die Erfahrung von Angenommensein schenkt. Liebe ist der Blick der Seele. Sie ist die Sprache der Seele. Ein Mensch, der in Beziehung mit seiner Seele ist, ist ein Liebender. Je tiefer man in Verbindung mit seinem Innersten ist, umso fähiger wird man, seiner Liebe Ausdruck zu verleihen.
Karl-Heinz Knebel