Auf der Suche was uns verbindet und nicht, was uns trennt!
Ängstlichkeit, Depressionen, Unsicherheit und Fragen nach dem Sinn des Lebens erfassen heute viele Menschen, die ansonsten fest im Leben stehen. Dazu kommt oft eine tendenzielle Ermüdung und Überdrüssigkeit. Wissenschaftler, Philosophen, Psychologen und geistige Lehrer, wie der Dalai Lama, sprechen heute gerne von einer Ursache, dem all diese Symptome zu Grunde liegen mögen: Das Fehlen einer persönlichen Spiritualität!
Doch was ist Spiritualität? Und wie lässt sie sich von Religion, Psychotherapie oder Esoterik abgrenzen? Aus dem weiten Definitionsfeld Spiritualität soll hier der Versuch unternommen werden, Spiritualität als das verständlich zu machen, was sie für unser Mensch sein, im weitesten Sinne für unsere Gesundheit, bedeutet. Versteht man Spiritualität zunächst ganz allgemein als Bemühen um ein sinnerfülltes Leben, dann liegen die Verbindungen zum Gesundheitsverhalten eines Menschen auf der Hand
1971 wurde auf einer Konferenz im Weissen Haus „spirituelles Wohlbe- finden“ umschrieben als „innere Resourcen des Menschen, sein wichtigstes Anliegen und grundlegenden Wert, auf den alle anderen Werte ausgerichtet sind – ganz gleich, ob religiös, antireligiös oder nicht religiös“
Seitdem die WHO „spirituelles Wohlbefinden“ als einen eigenständigen Bestandteil umfassender Gesundheit sieht, forschen Gesundheitswissenschaftler vermehrt nach seinen Bedingungen. Psychologische Effekte religiöser Glaubensüberzeugungen wie Vertrauen, Hoffnung, Sinngebung oder Vergebungsbereitschaft wirken sich offenbar wohltuend auf die Gesundheit aus. Durchaus betrachten manche Gesundheitsforscher spirituelle Gesundheit neben der psychischen, sozialen, biologischen und ökologischen Dimension als weiteren Faktor für umfassendes Wohlbefinden, der gleich- berechtigt zu berücksichtigen und zu fördern sei
Ernest Kurz, ein US-amerikanischer Autor setzt ebenfalls „Spiritualität“ in Verbindung mit „Gesundheit“, indem er folgendes sagt: „Spiritualität ist der Gesundheit in vielem ähnlich. Wir alle besitzen Gesundheit, sie kann gut oder schlecht sein, aber irgendeine Gesundheit haben wir auf alle Fälle
Dasselbe gilt für Spiritualität: Jedes menschliche Wesen ist auch ein geistiges Wesen. Die Frage ist also nicht, ob wir Spiritualität haben, sondern ob diese Spiritualität eine negative ist, die zur Isolation und Selbstzerstörung führt, oder eine positive, die verbindet und Leben spendet“
Es geht auch nicht um eine abstrakte Spiritualität sondern um eine Spiritualität zum Anfassen, die auf eine ganz persönliche, biographische Erfahrung beruht, eingebettet ins Menschsein und gleichzeitig einer seiner tragenden Säulen.
Ethymologie und Historie
Spiritualität leitet sich von lateinisch „spiritus“ ab, was „Geist“ oder „Hauch/ Atem“ bzw. „spiro“ – „ich atme“ bedeutet und im weitesten Sinne „lebendig sein“ umfasst. Es meint die Suche nach einer durch unsere Sinne erfahrbaren und gleichzeitig nicht fassbaren allumfassenden, transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt und die sich rational und kognitiv nicht erklären lässt. Spiritualität bedeutet in diesem Kontext eine innere Haltung und Einstellung zum Leben, die zulässt, dass man nicht Gott ist bzw. als Mensch in etwas Größeres eingebettet ist und liebevoll getragen wird. Gar nicht so leicht in einer Welt, die einem den Glauben vermittelt und den Anspruch einmeiselt, selbst seines Glückes Schmidt zu sein. Und das in Konkurrenz zu seinen Mitmenschen. Sich so diesem Größeren anzuvertrauen verlangt viel Kraft und Selbstverantwortung. Und Mut zum Zweifel
Im Laufe der Zeiten veränderte sich die Bedeutung von Spiritualität bzw. eines spirituellen Lebens. In der Antike wurde der Begriff zunächst als Gegensatz zu materiellem, erdverhaftetem und weltlichem benutzt und bedeutete eine Konzentration auf geistige statt auf materielle Werte. So entstand das Mönchtum, der Wunsch nach weltabgewandtem, asketischem Lebens. In den Wüsten des Nahen Ostens, auf dem Boden des Römischen Reiches, entstand die Bewegung der sogenannten Wüstenväter. Sonderbare, aber als Heilige und Weise verehrte Männer
In Irland entwickelte sich ein keltisches Mönchstum, dass es auf die entferntesten und unwirklichsten Inseln und Landstriche zog. Ein entbehrungsreiches Leben frönend. Sie alle verband eine gewisse Verachtung weltlichen Lebens
Das Wort Spiritualität geriet dann im Mittelalter außer Gebrauch, war eher ein Synonym für Frömmigkeit. Erst in der Neuzeit und verstärkt seit den 1960er Jahren wurde es wieder zum Leben erweckt. Wieder um einen Gegensatz zu bezeichnen, diesmal nicht nur als Gegensatz zu „Materialismus“, sondern auch als Gegensatz zu festgelegter Religion. In gewissem Sinne ein Versuch, einen Mittelweg zu finden zwischen völliger Ablehnung und unkritischer Umarmung „der Welt“ oder „der Kultur/Gesellschaft“ in der man lebt. Viele werden sich noch an die Hippie- Bewe- gung erinnern. Östliche Religionen wie der Buddhismus oder Hinduismus hielten Einzug in den Gefilden der westlichen Welt. Reisen jener jungen Generation bis nach Indien wurden unternommen, getrieben von Abenteurlust und Sinnsuche
Ganz allmählich und leise veränderte sich nochmals der Sinn des Wortes „Spiritualität“
Gelebte Spiritualität meint heute ein Leben in der Welt, wie sie ist. In ihrer Dualität von Hellem und Dunklem, von Schönheit und Hässlichkeit. Jedoch nicht als Mensch losgelöst von ihr, sondern sie annehmend. Begreifend, dass man selbst sich in dieser Dualität befindet, nicht vollkommen ist. „Alles Leben ist Begegnung“ schrieb Martin Buber. Und Begegnung umfasst ein „sich berühren lassen“, ein Teilnehmen in tiefem Mitgefühl und die Fähigkeit zur Verbundenheit. Wie und auf welcher Art und Weise sich einem diese zutiefst menschlichen Eigenschaften er- schließen, durch Gebet und Meditation, durch soziales Engagement oder sonst wie, hier findet sich das Verbindende, Lebenspendende und nicht das Trennende, Lebensabweisende. Hier findet sich eine gesunde Spiritualität aus der heraus ein Lebenssinn, eine Lebensfreude erwächst. Ausdruck einer gemeinsamen Welt, in der niemand vereinzelt, einsam und verzweifelt vor sich hinleben muss.
Spiritualität und Religion
Die Sprache der konfessionellen Religion betont das Solide, das Feste, die der Spiritualität das Fließende. Menschen suchen Halt in Regeln, festen Abläufen, Ritualen. Daran ist nichts falsch. Nur wenn Erstarrung eintritt, sich an den äußeren Umständen festgehalten wird, Rituale nicht mehr mit Leben gefüllt werden, kommt es zu einer Inhaltsleere, einer spirituellen Leblosigkeit, zu Stillstand. Spiritualität sucht das Verbindende, findet sich in der Sehnsucht nach Leben, die auch allen Religionen zugrunde liegt
Leider wird in den Religionen gerne aus- und abgrenzt: Wir und die anderen, mit der Einstellung, selbst auf der „richtigen Seite“ zu stehen, während die anderen bestenfalls sich verirrt haben, „ungläubig“ sind, zu ihrem Unglück auf der falschen Seite sich bewegen. Spriritualität lebt vom offen sein, neugierig sein, vom Wunsch, sich dem Fremden zu nähern und es zu verstehen, wie auch selbst verstanden zu werden, um daran zu wachsen
Konfessionell organisierte Glaubensformen manifestieren sich gerne in Doktrin, Lehre und Autorität, mit Belohnung und Strafe und folglich mit Habgier und Furcht. Spiritualität entfaltet sich im Raum individueller Freiheit, in der durch die Erfahrungen des Lebens sich die Gesetze der Natur und des Transzendenten offenbaren können. Letztendlich mögen spirituelle Menschen durchaus in Religionen zu Hause sein und Religionen mit gelebter Spiritualität durchzogen sein. Leo Booth, ein us-amerikanischer Priester und Buchautor verfasste den Satz: „Spiritualität ist die Seele einer jeden Religion.“ Bleibt noch zu sagen: Zumindest in ihren Ursprüngen.
Spiritualität und Psychotherapie
Psychotherapie wird gerne als Konglomerat moderner Konzepte und Methoden der Neuzeit verstanden. Als Vater wird im allgemeinen Sigmund Freud mit seiner Entwicklung der Psychoanalyse gesehen. Allerdings gab es schon in der Antike den Begriff „Therapie“ und war Ausdruck spirituellen Heilens. Das Wort Therapie leitet sich ab von altgriechisch „therapeuon“ – der Begleiter. Ein Mensch, der die (Heil)Kunst beherrschte, einen seelisch kranken Menschen in einem Prozeß der Heilung zu begleiten, ihn wieder „ganz“ zu machen. Es gab keine Kultur, die nicht Frauen und Männer hatte, die als „therapeuon“ geachtet wurden. Ausgelöst durch einen allmählichen Übergang der praktischen Medizin von einer Kunst zu einer Wissenschaft, sind die meisten Therapiemethoden heute nicht mehr als spirituell zu verstehen. Da es nun das Ziel der Spiritualität und der Psychotherapie ist, den Menschen gesund (heil, ganz) zu machen, werden die Grenzen beider häufig verwechselt. Spiritualität ist aber nicht daran interessiert, zu messen, zu beweisen oder Hand anzulegen. Psychotherapie sucht die Ursprünge, die treibenden Kräfte, die einen erkranken ließen. Sie versucht, den Menschen von einer Krankheit zu befreien. Spiritualität kümmert sich um die Zugkraft von Motiven, die lockend wirken oder fördern, sie spricht von „Idealen“ und von „Hoffnung“
Sie befreit zum Leben (trotz einer Krankheit), zum Einklang des Selbst mit der Wirklichkeit, die es umgibt. Im weitesten Sinne bietet Psychotherapie Erklärungen, Spiritualität Vergebung. Beides kann notwendig sein, aber eines ist nicht das andere.
Spiritualität und Esoterik
Beides wird gerne aus Unwissenheit verwechselt oder in einen Topf geschmissen
Esoterik kommt vom altgriechischen „esoterikos“, was soviel heisst wie „innerlich“, dem„inneren Bereich zugehörig“ dem “inneren Wissen folgend“, also einem spirituellen Weg folgend. Im Gegensatz dazu die Exoterik als allgemeinzugänglichem Wissen, z.Bspl. Geschichten, Gleichnisse erzählen, die Gesetzmäßigkeiten, Ethik und Leben verständlich machen. Heute wird unter Esoterik ein Sammelsurium von Geheim- lehren, Magie, Okkultismus, Grenzwissenschaften, Prophezeihungen, Spiritismus, Heilslehren,Tarot legen oder die Bechäftigung mit UFOs und Außeridischen verstanden, nur um ein paar Beispiele zu nennen. Auf mentaler Ebene wird versucht, (scheinbar) nicht Erklärbares zu erklären. Dabei entwickeln sich oft Gemeinschaften (Sekten), die von skurrilen oder obskuren Ideologien beherrscht werden und sich durch ein „wir und dort die anderen“, wobei die anderen abgewertet werden, als elitär erleben
Ein riesiger Büchermarkt und heute auch das Internet füttern mit einem gewaltigen Angebot an „Wahrheiten“ die Köpfe der Menschen. Über ein vermeintlich besonderes und nur wenigen Menschen zugängliches Wissen an dem man teilhat, bedienen viele ihren Narzismus, ihr Halbwissen und das Gefühl, was besonderes zu sein
Auch muss man sich seiner Realität nicht stellen und kann in einem „Kogon selbst- gestrickter Wahrheiten“ unerreichbar für andere (außer Gleichgesinnten), seine Welt kultivieren. Spiritualität lebt nicht im Außergewöhnlichen noch muss sie sich zu anderen abgrenzen. Bei ihr geht es nicht darum, die Welt wie auch immer zu erklären, sondern durch Erfahrung, auch in Glück und Freude, in Schmerz und Leid, der Welt sich zu stellen. Mit anderen Worten: in dieser Welt zu sein, wie auch immer sie sich zeigt. Auch als ganz gewöhnlich.
Spiritualität erfahren
Der Kompass zur eigenen Spritiualität findet sich in der eigenen Erfahrung. Nicht im über etwas reden, lesen oder nachzudenken, noch nicht einmal im etwas tun. Es geht tatsächlich darum, das Leben auf eine neue Art zu erfahren. Und bereit dafür zu sein
Diese Erfahrungen haben eines gemeinsam: Sie können nicht herbeibefohlen werden, können nicht beliebig hervorgerufen werden. Sie geschehen – und wir erfahren sie, wenn wir offen für sie sind, aber wir können sie nicht steuern, wann und wie sie uns treffen. Hier zeigt sich ein kleines Geheimnis, das es in sich hat. Der Mensch wird geboren und lernt zu machen, zu kontrollieren, zu tun. Das gibt ihm Sicherheit und Identität. Jetzt wird etwas verlangt, was ihn zunächst verunsichert und ver- meintlich in Frage stellt: die Bereitschaft, geschehen zu lassen, nicht herbeiführen zu wollen. In diesem Moment wird Kontrolle aufgegeben und eine neue Erfahrung kann geschehen, die einfach sonst nicht gemacht werden würde. Sicher, unvermutet geschieht dies im Leben. Aber ganz bewusst, mit einem Gefühl der Schutzlosigkeit, das verlangt Mut. In dieses Vakuum des Nichtkontrollierenwollens hinein kann das Neue geschehen, das genau jetzt seine Richtigkeit hat, den Menschen innerlich wachsen zu lassen. Mit anderen Worten: Solange der Mensch festhält, ist er an etwas gebunden, hängt er fest und nimmt sich die Möglichkeit für das Neue. Loslassen wird als Befreiung erlebt. Spiritualität lässt sich nicht mit Willen erwirken
Weil Befreiung als Geschenk erlebt wird, nicht verdient und nicht durch Leistung erworben, erwächst aus ihr von ganz allein die Erfahrung von Dankbarkeit.
Diejenigen, die Spiritualität suchen, erkennen in jeder Wirklichkeit auch ein Geschenk und empfinden Dankbarkeit dafür. Spiritualität selbst ist ein Geschenk
Aus der Erfahrung und Haltung von Dankbarkeit erleben wir Demut. Nicht das gedemütigt oder unterwürfig, kriecherisch sein ist hier gemeint. Demut bedeutet hier einfach zu akzeptieren, dass man Mensch ist, mit all seinen angenehmen und unangenehmen Seiten. Demütig sein heißt, nicht zu vergleichen. Daraus ergibt sich eine Leichtigkeit des Seins, ein Humor, der auch nicht vor einem selbst halt macht. Und zunächst die eigenen Mängel und Fehler zu sehen, ist auch Demut. Aus ihr erwächst eine neue Erfahrung: Toleranz
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit verhelfen zu einer gewissen Klarheit oder Nüchternheit über sich selbst. Toleranz hilft, dass man dranbleibt, in Selbstverantwortung die eigenen Schwächen und Fehler zu akzeptieren
Daraus kann eine weitere Verantwortung wachsen: die Schwächen und Grenzen derer zu akzeptieren, die einem sehr nahe sind und darüber hinaus schließlich jene Menschen miteinzubeziehen, die einem eher unangenehm, fremd oder auch bedrohlich sind. Toleranz meint hier nicht Gleichgültig sein, sondern eine tiefe Gleichwertigkeit erwachsen zu lassen, aus der allmählich Mitgefühl sich entwickelt
All diese bis jetzt wiedergegebenen Erfahrungen sind der Boden für eine der wesenstlichen spirituellen Erfahrungen, der Fähigkeit, Vergebung zu erleben und vergeben zu können. Ein spiritueller Lehrer schrieb einmal: „Der Groll ist das größte Gift für ein gesundes Leben. Aus dem Groll gehen alle spirituellen Krankheiten hervor.“ Zorn, Wut und Ärger sind kurzzeitige Aspekte von Groll. Ein anderes Wort für Groll ist „Ressentiment“, was soviel wie „rückwärts gerichtet fühlen“ meint. Das heisst, der Mensch klebt fest an etwas schmerzlich Erlebtem in der Vergangenheit. Es ist sein Schmerz, seine Verletzung, seine Opferrolle, an denen er festhängt und festhält. Er ist ein- geschlossen in eine quälende Vergangenheit. Es bedarf viel Vertrauen um die Ängste loszulassen, die mit der alten Identität verbunden sind
Nun entzieht sich Vergebung als spirituelle Erfahrung auch dem eigenen Willen, Vergebung kann man nicht „machen“. Sie geschieht. Von außen an einen herangetragen oder von innen in einem selbst als Geschehen
Durch Mitgefühl als Erfahrung, indem auch der Täter/ die Täterin einbezogen ist, durch den Wunsch, sich nicht mehr als Opfer zu definieren, kann Vergebung und Versöhnung in voller Selbstverantwortung geschehen. Die Vergangenheit weggeben, sich von ihr lösen, ist sicherlich eines der wunderbarsten spirituellen Geschenke, die erfahrbar sind
Je mehr eine innere Freiheit erfahren wird, desto mehr findet sich ein Gefühl und ein Wissen ein, nach Hause zu kommen, ein Zuhause-Sein
Es bedeutet, sich vom Leben berühren zulassen, uneingeschränkt und ohne Ausklammerung, sich vom Leben umarmen lassen. Und die Freude, das Leben berühren und umarmen zu können. Wenn der Mensch Nähe und Begegnung zulässt, ist er zu Hause, erlebt er Fülle und Liebe und möchte diese weitergeben. Dann ist er angekommen.
„Die fundamentale Frage ist doch: Was ist das Ziel des Lebens? Menschlicher zu werden oder immer mehr zu produzieren?“ (Erich Fromm)