Die Rauhnächte

Zeit für Ruhe und Erholung zwischen den Jahren

In der heutigen Zeit, schnelllebig und technologisch bestimmt, wird selbst das Wort „Weihnachtszeit“ mit Anspannung und Stress verbunden. Oder mit einer Erwartung von aufkommender Einsamkeit und dem Drang, möglichst auf eine Insel in wärmere Gefilden der Erde zu entfliehen. Nichts von einem Zauber oder kindlicher Magie, von Ergriffenheit und innerer Wärme, allenfalls in den Erinnerungen der eigenen Kindheit. Vom Ursprung und tieferen Sinn dessen, was „Weihnachtszeit“ genannt wird, ist wenig geblieben. Auch die sogenannten „Rauhnächte“, zeitlich Deckungsgleich mit der Weihnachtszeit, die einer viel älteren Tradition entspringen und noch sehr an eine Zeit erinnern, in der der Mensch mit der Natur lebte und sein Jahresablauf von dieser bestimmt wurde, sind aus dem Bewusstsein verschwunden. Allerdings erfreuen sie sich in den letzten Jahren einer zunehmenden Beachtung und Aufmerksamkeit.

Was und wann sind die „Rauhnächte“?

Über die Ursprünge, Deutung und zeitliche Bestimmung der „Rauhnächte“ gibt es verschiedene wissenschaftliche Meinungen. Dem Begriff „Rauhnächte“ werden allgemein drei Ursprungsdeutungen zugeordnet. Zum Einen einfach „rauhe“, das heisst unwirtliche, dunkle Nächte. Auch das althochdeutsche Wort „rûna“ (für „rauh“), was man mit „Geheimnis“ übersetzen kann, wird zum Verständnis herangezogen, also „geheimnisvolle Nächte“. Eine weitere Ansicht sieht in dem Wort „rauh“ seinen Ursprung im mittelhochdeutschen „rûch“, was „haarig“, „pelzig“ oder „wild“ bedeutet und wohl noch heute im Beruf der Kürschner für Pelzwaren Verwendung findet als Rauh- oder Rauchware. Hier liegt der Bezug zu altem Brauchtum herumziehender wilder, mit Fellen behangener Gesellen, die böse Geister vertreiben, in den Alpenregionen heute noch als Perchtenumzüge beliebt. Eine dritte Interpretation der „Rauhnächte“ führt „rauh“ auf das ebenfalls mittelhochdeutsche „ruoch“ – „rauchen“ oder „räuchern“ zurück, da in manchen Beschreibungen auch von „Rauchnächten“ gesprochen wird. Hier war wohl der Brauch angesprochen, Gebäude und Ställe mit geweihten Kräuter oder Weihrauch zu beräuchern, sprich zu reinigen, um auch hier das Böse auszutreiben. Jedenfalls haben die „Rauhnächte“ mit uraltem christlichen und vorchristlichem Brauchtum in Europa zu tun.

Zeitlich entsprechen die „Rauhnächte“ in den meisten Regionen Europas der Weihnachtszeit, die vom 25. Dezember bis 6. Januar ihren Platz einnimmt. Gerechnet von 0 Uhr am 25. Dezember bis 0 Uhr am 6. Januar umfassen diese genau 12 Nächte. Ihren Ursprung haben diese 12 Nächte mit ihrem Brauchtum in der Differenz der Länge eines Mondjahres mit dem eines Sonnenjahres. Ein Mondjahr beheimatet 354 Tage, ein Sonnenjahr bekanntlich 365 Tage. Die Differenz von 11 Tagen bzw. 12 Nächten, die beim Mondjahr eingeschoben werden, um mit dem Sonnenjahr wieder gleichzuziehen, nennt man die Tage „außerhalb der Zeit“ oder „Rauhnächte“. Im Laufe der Jahrhunderte wurde daraus schließlich die heutige Weihnachtszeit, beginnend drei Tage nach dem kürzesten Tag im Jahr, dem 21. Dezember, der Wintersonnenwende.

Was bedeuteten die „Rauhnächte“ in früheren Zeiten den Menschen und was können sie dem heutigen Menschen vermitteln?

Das heutige Leben mit all seinen technischen Errungenschaften und die daraus resultierenden Annehmlichkeiten hat sich erst in den letzten hundert Jahren seinen Weg gebahnt. Als Folge davon entstand aber auch eine gewisse Entfremdung zur Natur, ihren Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten, kurz – die Fähigkeit zu innerer Verbundenheit. Die Menschen früherer Generationen fühlten sich noch eingebunden in die natürlichen Abläufe, waren ihnen auch ausgesetzt. Daraus formten sie einen Pragmatismus an Denken, Handeln und Erklärungen. Die „Rauhnächte“ waren und sind in der dunkelsten und unwirtlichsten Zeit des Jahres angesiedelt. Die meisten Menschen lebten von Ackerbau und Viehzucht, die sehr viel Mühen und Arbeit bedeuteten. Im Winter ruhte diese Arbeit und man lebte mehr zurückgezogen. Auch in den Städten fand wenig Leben auf den Straßen statt.

Märkte und Handel waren rar. Die Mächtigen führten keine Kriege. Bevor man wieder in die Vorbereitung für das kommende Frühjahr ging, gab es wenig zu tun und man konnte in der Zurückgezogenheit sich innerlich erneuern. Der Mensch vergangener Jahrhunderte war sehr religiös und respektvoll den Naturgewalten gegenüber, die ihm ein gutes oder ein schweres Leben geben konnten. So suchte er das Gegensätzliche in sich und in seinem Leben auszugleichen, kreierte Brauchtum und Rituale, in denen er sich mit jenen Kräften zu vereinen suchte, die ihm ein gutes Schicksal bescheren. Und jene Kräfte zu vertreiben, die ihm nichts Gutes wollten. Heute redet man von „work-life balance“ oder Persönlichkeitsentwicklung, Coaching und Psychotherapie uvm.

Die „Rauhnächte“ boten auch Räume der Besinnung, sich mit der Familie, mit nahen Verwandten und Freunden zu beschäftigen, mehr für einander da zu sein. Auch auf das vergangene Jahr zurückzublicken und Zukünftiges zu planen. Es wurde viel gefeiert und genossen, aber auch gebetet, meditiert. Man nahm sich einfach Zeit dafür.

Und die „Rauhnächte“ heute? Einiges hat sich bis heute erhalten. Das Brauchtum „zwischen den Jahren“ die Firma, das Büro zu schließen, in den Urlaub zu fliegen, aus der gewohnten Arbeitswelt herauszutreten, mit der Familie zusammensein, Eltern, Freunde, Verwandte besuchen, für das kommende Jahr zu planen und – für nicht wenige Menschen – das Ritual der Steuererklärung durchzuführen. Bedingt durch eine ordentliche Akkumulation an Feiertagen wird auch gerne mal – wer kennt dies nicht – die Frage gestellt: „Welchen Tag haben wir eigentlich heute?“ Die Zeit, sonst bestimmt von Terminen und Strukturen, geht über in ein Sein. So betrachtet ist die Zeit der „Rauhnächte“ gar nichts Fremdes oder Überholtes. Und doch mahnt diese Zeit ganz leise auch zur Selbstreflexion, zur Besinnung. Gerade für den individualisierten und funktional ausgerichteten Menschen. Immer ganz vorne dabei, immer allem einen Schritt voraus. Nur, wo ist er/sie mit sich selbst? Hier bietet sich in den „Rauhnächten“ ein sehr aktuelles „Brauchtum“ an: Sich seine/ihre ganz persönliche Zeit geben.

Weniger denken – mehr fühlen, spüren und erahnen.

Sich wieder bezaubern lassen, von Menschen, Dingen, der Natur.

Das kreieren eigener Rituale für eine körperliche, mentale und seelische Ausgeglichenheit: In der Dunkelheit Kerzen anzünden, angenehme Musik auflegen, eine Duftlampe mit besonderen Ölen entzünden, ein Buch zur Hand nehmen.

Sich was Leckeres kochen und damit beschenken. Einfach atmen und lauschen.

Sich auf dem Sofa einkuscheln.

Ein Thermalbad mit wonniger und bezaubernder Atmoshäre besuchen und genießen, gerade dann, wenn es in den dunklen Abend hinein geht.

Einem Menschen, den man mag, eine Freude bereiten. Dies kann ein Geschenk sein, oder ihm/ihr Raum geben und einfach zuhören oder Zeit mit ihr/ihm verbringen.

Dankbarkeit zu spüren ist Balsam für die Seele. Entspannte Spaziergänge in der Natur, alleine oder zu zweit, lassen Klarheit und Verständnis erwachsen.

Man kann sich noch viele weitere eigene Rituale geben und mit Leben ausfüllen. Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.

Das Leben verändert sich rasant. Der Mensch wird davon eingeholt und muss damit umgehen lernen. Das ist nicht leicht und macht auch Angst. Aber er kann aus alten Traditionen für sich Neues schöpfen, wenn er bereit ist, sie mit neuen Inhalten zu beleben und wenn er erkennt, dass seine Vorfahren Mittel und Wege fanden, die zeitlos sind und dazu dienen, einen inneren Ausgleich zu schaffen und mit sich und der Welt beziehungsfähig und verbunden zu sein. Dadurch Geborgenheit und Vertrauen erlebt. Und daraus einen magischen Zauber zu seinem Leben entdeckt.

Die „Rauhnächte“, modern gesehen und belebt, sind eine solch tradierte Brücke und Gelegenheit, dahin zu finden.

Wenn Du die Zeit
nicht zur Aufheiterung deiner Seele verwendest,
wird sie entschwinden,
und Du wirst entschwinden,
und ein zweites Mal wird es nicht möglich sein,
sie zu verwenden.

Marc Aurel (röm. Kaiser und Philosoph,161- 180 n. Chr.)