Das Unbehagen in der heutigen Zeit

Ursachen, Umgang und Lösungen

Eigentlich war alles gut, oder zumindest lösbar. In den letzten Jahrzehnten ging es für die meisten Menschen ökonomisch bergauf, gesellschaftlich gab es zwar Konflikte, die aber nicht das sozialpolitische Gefüge erschütterten. Eine Grundstimmung, ein Lebensgefühl des „Weiter so“ und der Selbstverständlichkeit der vorherrschenden Lebensweise, auf diesem Planeten ein Leben führen zu können, das von einer Grundzufriedenheit und Wunschbefriedigung erfüllt bleibt. Doch dann schlichen sich diese immer lauter werdenden Warnungen der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen auf dieser Erde ein. Mitten in diesen Kassandrarufen tauchte dann die Corona – Pandemie auf und schließlich jener Krieg in der Ukraine, der so deutlich macht, dass (die zurückliegenden) Friedenszeiten nicht selbstverständlich waren und sind.

Und so hat sich ein Unbehagen breit gemacht, das mittlerweile sehr viele Menschen erfasst. Wie kann man mit diesem Unbehagen umgehen? Und was will es vermitteln? Was sind seine psychischen Ursachen?

1967 wurde ein Musical in New York uraufgeführt, das damals Furore machte und bis weit in die 1970er Jahre um die Welt ging: „Hair“. Aus diesem Musical wurde ein Song besonders berühmt, bis in die heutige Zeit: „Aquarius/Let the sunshine in“. Darin wird ein aufkommendes Zeitalter prophezeit, dass bald eintreten würde und die Menschen von Liebe, Licht und Menschlichkeit erfasst sind und im Einklang mit der Erde leben. Eine Welt ohne Gier, Haß, Neid und Mißgunst, ohne Krieg. Dieses Musical ließ die Menschen aufatmen, verkündete es doch einen kommenden Frieden, eine Hoffnung auf ein Leben ohne Konflikte, auf ein wartendes Paradies, in dem die Menschen friedvoll miteinander umgingen.

1989 dann das Jahr des Mauerfalls, des Endes des sogenannten Kalten Krieges, der ideologischen Dualtität zwischen Ost und West. Wobei sich der Westen durchaus als Gewinner verstand, der das bessere Lebenskonzept auf seiner Seite sah. Aus der Hoffnung schien nun Möglichkeit geworden zu sein, mehr noch, denn nun konnte die Menschheit, das Böse war ja vermeindlich besiegt, tatsächlich in ein goldenes Zeitalter aufbrechen. Aus der Hoffnung war Zuversicht, war Überzeugung geworden, das Alte abzulegen und in ein neues, friedvolles Sein zu finden. Eine banale Handlung daraus war der Abbau der Luftschutz- und Warnsirenen von den Dächern der Rathäuser in Deutschland. Der zweite Weltkrieg gehörte nun endgültig der Vergangeheit an und seine seelischen Auswirkungen wurden damit symbolisch zu Grabe getragen.

Es folgten 30 Jahre, in denen die Menschheit sich der Erfüllung irdischen Glücks hingab. Zumindest was darunter allgemein verstanden wurde. Es gab einen Rückzug vom politischen hin zu einem privaten Alltagsleben. Das irdische Glück fand sich bei der Mehrheit der Gesellschaft im Mehren des Wohlstands, im Familien gründen, Karriere machen oder der Selbstfindung mit Glückseligkeitsanspruch wieder. Man wollte verreisen? In die entferntesten Winkel dieser Erde, in unberührte Natur, zu attraktiven Städte mit Shoppingangebote, Erlebnis und Wellness? Kein Problem. Bequem im all inklusiv Status und möglichst mit Billigfliegern, alles zu erschwinglichen Preisen. Das Leben selbst wurde in diesen Jahren zu einem Massenkonsumartikel. Eingepackt in eine ichbezogene Selbstverständlichkeit mit der Etikette: Das steht mir aber zu! Und jeder wollte daran verdienen. Ab und zu kam es zu Börseneinbrüchen, Finanzkrisen und Immobiliencrashs, aber nach kurzem Schrecken ging es einfach weiter mit dem Leben in Freiheit. Nur, was für eine Freiheit war das? Eine Freiheit im „Ich mache, was ich will“ oder einer Freiheit im Erkennen dessen „was ich brauche“, was mich zu einem Menschen in voller Selbstverantwortung macht: im Denken, Fühlen und Handeln. Auch frei zu sein im Verzichten, Maß nehmen, Loslassen können und frei zu sein im nicht alles sofort und mühelos erreichen oder bekommen zu können.

Entwicklungspsychologisch befindet sich das menschliche Kollektiv gewisserweise in einer Phase der Adoleszenz. Sie ist geprägt von Einstellungen wie „Wir können es besser als unsere Väter und Mütter“, „Gesetze beengen nur“ und „was kümmert mich die Vergangenheit und die Zukunft“. Ein Song, der auch zum Hit wurde, titelte sich: „I want it all, I want it now“. Besser lässt sich jene Epoche ab den 1990er Jahren kaum wiedergeben.

Nur allmählich, wenngleich schon vor vielen Jahren zu hören, fanden sich Stimmen der Warnung, Stimmen, die darauf hinwiesen, dass dieses unbeschwerte Leben auf Kosten der Natur, der Tiere und Pflanzen, der eigenen Lebensräume, nicht so weitergehen kann und wird. Dass der Mensch sich selbst den Boden unter den Füßen wegzieht, auf dem er sich bewegt. Und dass es nur eine Erde gibt, auf der der Mensch leben kann. Um darauf glücklich sich bewegen zu können, braucht der Mensch ein Wissen um und eine Akzeptanz für die Naturgesetze, die ihm ein gesundes Leben ermöglichen. Dieses Wissen ist individuell und kollektiv durchaus vorhanden, wenngleich es gerne verdrängt und oft völlig entgegengesetzt gehandelt wird. Immer mehr findet diese Ambivalenz in der menschlichen Psyche ihren Widerhall. Neben der Selbstverständlichkeit seiner selbst verliert sich auch das Gefühl einer Sicherheit und einer Geborgenheit. Daraus entsteht allmählich ein Unbehagen, das schließlich Ängste, Depressionen, aber auch Zorn und Wut speist.

Dieses Unbehagen hat durchaus positive Aspekte. So ist ein gesunder Umgang damit psychisch wertvoll und angebracht.

Menschen begehen Irrtümer. Der/die Adoleszente möchte einerseits unabhängig vom Elternhaus, seinen/ihren Bezugsperonen und Familieninstitutionen werden und sein eigenes Leben gehen, auf der anderen Seite braucht sie/er aber noch deren wohlwollenden Halt.

Irrtümer sind da nicht ausgeschlossen sondern eher ein Teil dieses Ringens. Sie gehören zu einer Persönlichkeitsentwicklung wie der Erfolg.

Am Anfang steht das Erkennen und die Einsicht.

  • So zeigt sich für viele Menschen, dass das Leben, wie es vor der Coronapandemie war, nicht mehr zurückkehren wird. Es ist schlichtweg Vergangenheit. Und ein Naturgesetz. Das Leben lässt sich nur im Augenblick erfahren. Von diesem Augenblick lässt sich die Vergangenheit reflektieren und die Zukunft gestalten.
  • Dem Menschen ist es eigen, das Leben fest im Griff haben zu wollen, es zu kontrollieren. Wo es gelingt, darf er auch stolz darauf sein. Es gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit. Die letzten zwei Jahre haben aber auch eine weitere Variante des Lebens aufgezeigt: das Leben ist in letzter Instanz nicht kontrollierbar sondern mit vielen Unwägbarkeiten bestückt. Und genau diese Unwägbarkeit bietet dem Menschen die Möglichkeit, Neues zu wagen, im Denken, im Verhalten, in den Vorstellungen, wie das Leben im Beruflichen, Privaten und Gesellschaftlichen zu sein hat. Und zu hinterfragen, was man bisher für Richtig oder für Falsch gewertet hat.
  • Wie steht es mit der eigenen „work-life-balance“? Wieviel Leben wird wirklich erfahren, wird wirklich gelebt? Für viele Menschen besteht der Alltag hauptsächlich aus Arbeit. Hier lässt sich Selbstbestätigung finden, Ehrgeiz ausleben und vieles mehr. Meistens schlittert man ganz allmählich in diese Schiene und ist darin oft so gefangen, auch wenn man merkt, dass es irgendwie so nicht weitergehen kann und soviel anderes Leben einem fehlt. Familie, Freunde, Hobbys und die Natur. Man lebt auf dieser Erde und kennt oft selbst die nähere Umgebung nicht. Schwäbische Alb, Schwarzwald, den Schönbuch. Einfach mal kleine Abenteuer suchen, es gibt auch hier kleine Naturräume, die durchaus unberührt sind und durch Kurzwanderungen oder mit dem Fahrrad entdeckt werden können. Nehmen Sie mehr Zeit und Raum für sich und Ihre Freunde, Partner, Familien. Ein Leben in menschlicher Gemeinsamkeit ist mindestens so bedeutend für die Seele wie eine erfüllende Tätigkeit. Und es lohnt sich, hin und wieder auch alleine in der Natur sich zu bewegen. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) gab dies in seinem wunderbaren Ausspruch wider: „Glaube mir, ich habe die Erfahrung gemacht, Du wirst mehr in den Wäldern finden als in Büchern; Bäume und Steine werden Dich lehren, was kein Lehrmeister Dir zu hören gibt.“ Achtung und Respekt vor der Natur und allen Lebewesen gibt ein Gefühl der Verbundenheit und des Halts im Leben. Einfach mal „sein zu dürfen“ und nicht nur „funktionieren zu müssen“.
  • Der Mensch ist ein soziales Wesen Der Mensch braucht Mitmenschen, in denen er sich erkennen kann, mit denen er sich auseinandersetzen und mit denen er menschlich wachsen kann. Menschen, denen er seine Wünsche und Ängste, Träume und Sehnsüchte, Kummer und Freuden kommunizieren, teilen kann. Auch das Unbehagen. In der Fähigkeit sich öffnen zu können, aber auch zuhören zu können, findet man ebenso Halt und Geborgenheit und verschwindet nicht in tiefer Einsamkeit. Alleine bleibt man sonst der Riese seiner Träume und der Zwerg seiner Ängste.
  • Vertrauen und Wohlwollen entwickeln Diese Fähigkeiten wollen immer wieder neu gefunden werden, sind jedoch von entscheidender Tragweite für ein gesundes und zufriedenes Leben. Vertrauen ins Leben nimmt viel von dem Unbehagen. Wohlwollend gegenüber sich und seinen Mitmenschen zu sein ist eine Haltung, die Konflikte lösen kann, die zu mehr Verständnis für einander und zu einem heiteren Lebensgefühl führt. Trotz allen Schwierigkeiten im Leben ist Humor etwas wunderbares. Vor allem, wenn man über sich selbst lachen kann. Dem Vertrauen und Wohlwollen entspringen Mut und Hoffnung, ohne die es keine Zukunft.
  • Selbstverantwortung übernehmen Hier ist nicht die Verantwortung gemeint, die im Beruf oder in Rollen und Funktionen gefragt ist und die man durchaus zu tragen weiss. Sondern die Selbstverantwortung für das eigene Denken, Fühlen, Verhalten und Handeln. Dies ist keine leichte Aufgabe und erfordert eine grundlegende Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, verbunden mit Achtsamkeit und Klarheit. Was sind die wirklich eigenen inneren Werte, Bedürnisse, Vorstellungen des Lebensskripts? Kann man sich selbst Antwort geben auf diese Fragen? Ist man bereit die Konsequenzen zu tragen? Je selbstverantwortlicher ein Mensch lebt, desto freier und sozialer ist er. Im Grunde genommen ist Selbstverantwortung der Schlüssel für ein gesundes Leben in Zufriedenheit, Zuversicht und Bejahung. Ein alter Weisheitsspruch lautet: „Wer andere besiegt, hat Kraft. Wer sich selbst besiegt, zeigt Stärke.“ Wie wahr.

Unbehagen ist ein Gefühl, dass etwas (im Leben) nicht mehr stimmt. Dieses Gefühl lässt sich nicht einfach zur Seite drängen, es möchte wahrgenommen werden und hat etwas mitzuteilen. So gesehen ist Unbehagen ein dem Menschen entgegenkommendes Gefühl, das ihm die Chance bietet, Innezuhalten, Nachzudenken und neue Richtungen einzuschlagen, da alte Lebensweisen nicht mehr tauglich sind. Dazu bedarf es manchmal „nur“ eines kleinen Perspektivwechsels, wie folgende chassidische Geschichte humorvoll widergibt:

Ein armer Mann kam zum Rabbi: „Es ist schrecklich, Rabbi, ich bin unglücklich wie Hiob. Ich, meine frau, meine drei Kinder und meine Schwiegermutter leben in einem Zimmer.“ Fragte der Rabbi: „Hast Du Hühner?“ „Ja, vier.“ „Nimm sie mit ins Zimmer“. Der Mann wagte nicht zu widersprechen. Nach einer Woche kam er wieder zum Rabbi und sagte: „Es ist noch schrecklicher. Die Hühner machen alles dreckig. Eins hat den säuglich gepickt und meine Frau hat es über die Betten gejagt.“ Der Rabbi: „Hast Du ein Kalb?“ Als der Mann ängstlich nickte, sagte er: „Nimm auch das Kalb mit ins Zimmer.“ Nach drei Tagen kam der Mann angerannt: „Rabbi, ich halte das nicht mehr aus. Das Kalb brüllt und trampelt auf den Kindern herum, die Hühner fliegen durchs Zimmer und legen Eier ins Bett.“ Der rabbi dachte lange nach, dann fragte er: „Hast Du ein Pferd?“ „Ja, ich habe ein kleines – aber Ihr werdet doch nicht wollen, dass……“ „Nimm auch den Gaul mit ins Zimmer“, verlangte der Rabbi. Schon am folgenden Morgen kam der Mann schreiend angelaufen: „Rabbi, das ist zuviel! Ich halte das in dieser Hölle keine Minute länger mehr aus. Wir werden alle völlig meschugge.“ „Nun“, sprach der Rabbi, „wenn Du es wirklich nicht mehr länger aushälst, dann nimm die Hühner, das Kalb und das Pferd wieder heraus.“ Der Mann rannte heim. Schon nach einer Stunde kam er wieder, lachte, klatschte in die Hände und schlug sich auf die Schenkel: „Rabbi, ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt. Uns ist, als säßen wir in einem Palast.“

(Karl-Heinz Knebel, Heilpraktiker für Psychotherapie, Ammerbuch)